Meine Flucht aus russischer Gefangenschaft in Sibirien

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Ken S.
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Meine Flucht aus russischer Gefangenschaft in Sibirien

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Post by Ken S. » 08 Jun 2020, 22:41

Here is a transcription of a booklet about a German cavalryman who was captured by the Russians and escaped. I haven't been able to verify anything about the author or story. I have it partially translated and if I ever finish it may post that as well. There are a few typos that I have to check, but since my digital backup is apparently lost, I'll have to find the physical copy.

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Meine Flucht aus russischer Gefangenschaft in Sibirien
von Max Krosanke

Einleitung.
Am 2. August 1914 wurde ich von Hamburg aus eingezogen. Es hieß: Auf, nach Riesenburg in Westpreußen! Unser Transportzug verließ abends 6.30 Uhr den Güterbahnhof Sternschanze und erreichte Riesenburg tags darauf um 4 Uhr nachmittags. Nach unserem Eintreffen daselbst erfolgte sofort die Einkleidung, und dann bekam jeder von uns ein Pferd. Am 4. August brachte uns die Bahn als Kürassiere nach Straßburg in Westpreußen. Jetzt ging's in schnellem Vorrücken zu Pferd von Ort zu Ort. Wir machten verschiedene Gefechte mit, u. a. auch die berühmte Schlacht bei Tannenberg, bei der unsere Schwadron eine schneidige Attacke ritt. Wir erbeuteten 4 Geschütze und nahmen ungefähr 100 Russen gefangen. Leider verloren wir bei dieser Gelegenheit unseren Rittmeister und den Trompeter. Dann ging's weiter in sorgesetztem Hin und Her nach den verschiedensten Orten bis Weihnachten 1914, wo wir seit langer Zeit endlich wieder einmal die Wohltat eines Bettlagers genossen. Wir rückten in das schöne Städtchen W i l l e n b e r g ein und unternahmen von hier aus Patrouillenritte nach dem in der Nähe liegenden Corscheln, das von den Russen besetzt war.
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Bis Kaisers Geburtstag – 27. Jan. 1915 – blieben wir in verhältnismäßiger Ruhe in Willenberg. Nun aber sollte es erst richtig ernst werden. Abends um 10 Uhr traf uns der Befehl, so schnell als möglich die Pferde zu satteln, und los ging es nach dem „heiligen Rußland“. Dies war m e i n l e tz t e r T a g a u f d e u t s ch e m B o d e n ! Am Abend des 27. Januar um 11 Uhr ging es im Galopp die Chaussee von Willenberg nach Corscheln entlang. Alles, was uns in den Weg kam, wurde niedergeritten. So gelangten wir in kürzester Zeit auf russischen Boden, auf dem uns aber gleich ein warmer Empfang bereitet wurde. Sofort kam das Kommando: „Abgesessen zum Gefecht zu Fuß!“ Hier mußten wir solange bleiben und standhalten, bis die Infanterie kam. Kurze Zeit darauf räumten die Russen das durchweg ärmliche Nest C o r s ch e l n , und wir nahmen sofort Besitz von diesem Grenzstädtchen. Nach einigen Gefechten bei Malwe rückten wir alsdann in die russische Garnisonstadt P r a ß n i tz ein, mußten aber diese Stadt bald wieder in größter Eile verlassen. Mittlerweile war es Februar geworden, der bittere Kälte und sehr viel Schnee brachte. Infolgdessen konnten nur noch Patrouillen zu Fuß gemacht werden, weil mit den Pferden nur sehr mühsam vorwärts zu kommen war.

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Meine Gefangennahme.
Dies sollte mir zum Verhängnis werden! Am 9. Februar 1915 war ich als Gefreiter zur Patrouille
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kommandiert worden. Tags zuvor hatte ich aus der Heimat ein mit allerhand Leckereien und Rauchutensilien gefülltes Paket erhalten, das ich auf meinem Patrouillenritt noch mit mir führte. Morgens um 6 Uhr rückte ich mit 5 Mann aus; wir sollten feststellen, wie weit die Russen von uns entfernt waren. Ich teilte mein Patrouille zu je zwei Mann ein, den 5. Mann nahm ich mit mir. Zwei Mann schickte ich linker Hand, die anderen beiden rechter Hand; ich selbst ging mit dem letzten Mann direkt auf ein vor uns liegendes Gehöft. Nach kaum 50 Metern bemerkte ich bereits die erste russische Patrouille. Sofort schickte ich meinen Kameraden mit einer Meldung zur Schwadron zurück, während ich selbst mich unter eine Tanne legte, um die weitere Entwicklung der Dinge, die da kommen sollten, zu beobachten. So lag ich ungefähr eine halbe Stunde. In der Annahme nun, daß mein Kamerad inzwischen die Schwadron erreicht habe, schlich ich mich alsdann vorsichtig zurück, wobei ich über ein großes Kartoffelfeld mußte. Kaum hatte ich jedoch den Wald verlassen, als es von allen Seiten „Hurree – Hurree!“ ertönte. Ich wußte sofort Bescheid – es war der Kriegsruf der Kosaken! Das Hasenpanier zu ergreifen, erschien mir zwecklos, und so verfeuerte ich schnell meine 5 Patronen, wobei ich ein Pferd und einen Kosaken schwer verwundete. Das sollte ich schwer büßen. Sofort war ich umringt, und von allen Seiten hagelten Knutenschläge mir auf Kopf und Rücken. In stummer Resignation lispelten meine Lippen lautlos: „Ade, du mein lieb' Heimatland!“. Aber – der „Retter aus Lebensnot“ stand schon neben mir in Gestalt eines russischen
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Offiziers, der mich vor weiteren Mißhandlungen beschützte. Auf sein Geheiß mußte ich jetzt vor den Kosaken wieder aufs Pferd, und im Trab gings mit diesen dem nächsten Dorfe zu. Dort mußte ich mich einer zwangsweisen „Abmusterung“ unterziehen: alles, was ich an Wertsachen bei mir führte, wurde mir abgenommen; nicht einmal meinen Trauring ließen sie mir auf dem Finger! Noch am späten Abend mußte ich dann mit vier Kosaken zu Fuß nach der nächstliegenden Festung, wo ich zum ersten Male ein eingehendes Verhör zu bestehen hatte; viel zu sagen wußte ich selbstverständlich nicht.

Etliche Tage wurde ich dort festgehalten, dann gings – immer noch solo – per Eisenbahn Warschau. Hier sollte ich meine ersten Leidensgenossen zu sehen bekommen. Bisher kannte ich als Kavallerist kein Ungeziefer, jetzt gab es dafür mehr als genug an allen Ecken und Kanten!

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Transport nach Sibirien.
Am 16. Februar wurden wir in Warschau mit etwa 800 Kriegsgefangenen aller Nationen verladen und landeten am 20. März in T s ch i t a i n S i b i r i e n. Keiner von uns ahnte, daß dies für die meisten Kameraden die letzte Fahrt werden sollte. Der Abtransport von Warschau gestaltete sich sehr abwechslungsreich, da es viel zu sehen und zu hören gab; wir fuhren direkt durch die kalte hindurch. In Tschita angekommen,
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wurden wir in vier Gruppen abgeteillt: Reichsdeutsche, Oesterreicher, Türken und Tschechen; letztere waren die Wölfe im Schafspelz! Wir Reichsdeutschen waren nur 50 Mann, die Tschechen hingegen über 200; mit Gesang und Galgenhumor marschierten wir in unsere vorübergehende „Heimat“. Wir bezogen eine Privatwohnung, „Haus Klieowsky“ genannt, und wurden hier alsbald zur Zwangsarbeit verteilt. Gleich am ersten Tage gelang es mir, in den Besitz einer Landkarte zu gelange, die ich von einem internierten Russen zum Geschenk erhalten hatte. Fleißig wurde jetzt gemeinschaftlich die Karte studiert, was aber mit großen Schwierigkeiten verbunden war, da sie nur russische Ortsangaben aufwies und keiner von uns auch nur ein Wort russisch verstand. Den Tschechen, die uns wohl als Dolmetscher hätten dienen können, durften wir mit unseren Heimlichkeiten natürlich nicht kommen, lieber hätten wir uns noch einem Stockrussen anvertraut! Trotzdem gab ich den Gedanken, wie ich aus diesem Elend wieder herauskommen könnte, nicht auf. Vor allen Dingen mußte ich versuchen, in Besitz eines Revolvers zu gelangen, aber woher nehmen und nicht stehlen?

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Flucht aus dem Lager mit einem holländischen Paß.
Am Abend des 1. April 1915 wurden wir für den kommenden Tag zur Arbeit eingestellt. Zwei Berliner und ich kamen zur Stadt, um die Straßen in einen sauberen Zustand zu versetzen. Wir waren etwa zwei
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Stunden mit dieser nichts weniger als angenehmen Arbeit beschäftigt, als ich von einem ärmlich aussehenden russischen Juden angesprochen wurde. Nach einer kurzen Unterhaltung, in der ich aus meinem Fluchtplan absolut kein Geheimnis mehr machte, wurden wir bald handelseinig, und im Handumdrehen war ich im Besitz eines holländischen Passes; mein Bartwuchs paßte vorzüglich zu der Paßphotographie, die mir sonst beinahe zum Verhängnis geworden wäre.

Es war am Spätabend des 2. April, als ich – ausgerüstet mit einem Trommelrevolver, einem Taschenmesser und einigen Pfunden Brot – die Reise durch China nach Holland antreten wollte. Im engsten Vertrautenkreise wurde kurz vor 11 Uhr Abschied gefeiert, und mit dem Glockenschlag 11 Uhr standen wir zu dritt leise von unserem Holzlager auf und schlichen über den von einer 31/2 Meter hohen Mauer umgebenen Hof. Es war nicht so einfach, über dieses Hindernis hinwegzukommen, aber was tut man nicht alles um eines großen Zieles willen! Der eine meiner Begleiter – ein kräftiger Schlosser – trat in gebückter Haltung an die Mauer heran, der zweite schwang sich auf dessen Schulter, und ich mußte nun versuchen, auf diesen hinaufzuklettern, was mir nach vielen Versuchen denn auch glücklich gelang. Trotzdem konnte ich mit den Fingerspitzen nur bis an die mit Glas „verzierte“ oberste Kante der Mauer reichen. Was nun? Mein Schlosser rief von unter herauf: „Haltet euch fest, ich mach' mich grad“, und schon war ich so hoch, daß ich bequem über den Mauerrand hinüberfassen konnte; dann zog ich einen Sack von meiner Schulter, legte ihn über die auf
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dem Mauerrand befindlichen Glasstücke, und richtig kam ich mit einem Klimmzug oben auf die Mauer. Nach einem kurzen herlichen Abschied von meinen Kameraden sprang ich von der Mauer nach der andern Seite hinab und landete glücklich auf gepflügtem Ackerboden.

Eilig verließ ich in der Nacht die Stadt und gelangte nach einem kurzen Marsch unbehelligt bis zur Bahnlinie Tschita—Wladiwostok. Dort blieb ich ruhig eine halbe Stunde am Bahndamm liegen; denn für eine geraume Zeit war ich vor einer etwaigen Verfolgung sicher. In dem von mir verlassenen Gefangenenlager wurde nämlich abends um 10 Uhr zum letzten Male abgezählt, und die nächste „Vergatterung“ – wie die Oesterreicher diese Kontrolle nannten – war erst morgens um 6 Uhr. Gegen Mitternacht sah ich in der Ferne einen Güterzug heranbrausen. Ich dachte bei mir: der ist für dich bestimmt! Tatsächlich hielt er auch kurz vor dem Bahnhof an. Die Nacht war sehr dunkel; ich schlich mich an den Zug heran, und schon saß ich zwischen den Puffern. Gleich darauf fuhr der Zug mit mir als „blindem Passagier“ in Richtung Wladiwostok ab, um gegen 4 Uhr morgens in einem elenden sibirischen Nest Halt zu machen. Weil es nun allmählich hell zu werden begann, mußte ich mich zu meiner größeren Sicherheit auf Schusters Rappen setzen. Nach einem mühevollen Marsch von mehreren Tagen kam ich endlich in die Nähe von W l a d i w o st o k. Natürlich durfte ich auf keinen Fall meinen Weg durch diese Stadt nehmen, und so spähte ich nach geeigneten Seitenwegen; aber nach langen vergeblichen Bemühungen blieb mir nichts
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weiter übrig, als die Richtung zur Wüste Gobi einzuschlagen und zu versuchen, von dort aus nach Mukden zu gelangen.

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Marsch durch die sibirische Einöde bis auf chinesisches Gebiet.

Es sollte aber anders kommen, als ich es mir vorgenommen hatte. Ich befand mich auf meiner Wanderung bereits auf chinesischem Boden und erblickte in nicht weiter Entfernung von mir einen seitlichen Waldweg. Diesen gedachte ich deswegen zu benutzen, weil die Hauptstraße von chinesischen und russischen Karawanen, die Tauschhandel trieben, frequentiert wurde. Ich schlug mich daher „seitswärts in die Büsche“ und war bald mitten in einem Grenzwäldchen, als ich zu meiner größten Verwunderung hinter mir her einen galoppierenden Reiter und den mir schon bekannten Schlachtruf „Hurree – Hurree!“ hörte. Mit hoch erhobenem Säbel stüzte der Mongole auf mich zu – er gehörte nämlich zu einer der dort zahlreich umherstreifenden mongolischen Patrouillen, die im russischen Dienst standen und weiter nichts zu tun hatten, als die zahlreichen russischen Deserteure einzufangen. Ein für diese Gelbgesichter einträgliches Geschäft, denn für jeden wieder eingefangenen Kriegsgefangenen, ob tot oder lebendig, gab es 25 Rubel Belohnung! Mit dem eben genannten Kriegsruf stürzte also der Mongole auf mich zu, fuchtelte mit dem Degen über meinen Kopf hin und
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her und schrie aus Leibeskräften immerzu: „Wojna Planil“ (Kriegsgefangener!) Nach und nach wurde mir die Sache zu ungemütlich: Ich zog mit der rechten Hand aus der linken Brusttasche meinen Trommelrevolver und legte auf den Mongolen an, in der Absicht, ihn einzuschüchtern. Aber, o weh – mein Revolver ging los, es ist mir bis heute noch ein Rätsel, wie dies vor sich gegangen war. Kurz und gut – meine aus so kurzer Entfernung abgegebene Kugel traf den Mongolen von unten herauf durch die linke Kinnlade und kam an der rechten oberen Schädeldecke wieder heraus – ich habe mich nachher selbst davon überzeugt. Ohne lange zu überlegen, sprang ich, als Kavallerist mit den Manieren der russischen Gäule vertraut, auf das Pferd des zu Boden gesunkenen Mongolen und ritt in schnellster Trabart meinem weiteren Ziele zu.

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Als „Spion“ gefangen!
Die Freude sollte allerdings nicht lange dauern. Der Wald hörte auf, und vor mir lag die Wüste Gobi. Zu meinem Schrecken sah ich dort zahlreiche Patrouillen herumreiten. Zur Umkehr war es für mich leider zu spät, sie hatten das Pferd schon gesehen. Runter vom Pferd, Revolver weggeworfen, war eins! Jetzt arbeitete ich mich auf dem kürzesten Wege zur Karawanenstraße durch. Eine gute Stunde war nach diesem Vorfall bereits verstrichen, und ich dachte schon bei mir: Gott sei Dank, das hat mal wieder gut
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gegangen! Aber ich hatte mich bitter getäuscht! Mit einer Plötzlichkeit und Gewissenhaftigkeit, die ich nicht im entferntesten erwartet hatte, wurden dort sämtliche des Weges kommenden Russen und Chinesen angehalten. Ein Entkommen war unmöglich, es wimmelte nur so von kontrollierenden Soldaten. Jeder wurde auf sein Wohin und Woher gefragt, und alle mußten ihre Pässe vorzeigen. Endlich kam die Reihe auch an mich, aber noch ahnte ich nichts Schlimmes, da ich mich im Besitz eines neutralen Passes ja gesichert glaubte. Ein baumlanger Russe pflanzte sich vor mir auf und verlangte mir in barschen Worten meinen Paß ab; und kaum hatte er ihn in Händen, als ich von ihm auch schon einen Schlag mit der Knute übers Gesicht bekam. Vier Mann umzingelten mich und schrieen in einem fort: „Spion – Spion!“ Denselben Weg, den ich gekommen, gingen sie mit mir zurück, bis wir wieder vor dem mongolischen Kosaken standen, den ich einige Zeit vorher vom Pferd geschossen hatte. Mit Bestimmtheit wußte ich freilich noch nicht, ob er auch wirklich tot war; aber als die Russen mich in ihrer Wut auf den Entseelten warfen, sah ich, daß mein unbeabsichtigter Schuß sofort tötlich gewesen war. In dem beruhigenden Gefühle, daß der Tote nun nicht mehr gegen mich zeugen konnte, und da ich zudem ja auch keinen Revolver mehr in meinem Besitze hatte, gab ich den Russen, die mich immerfort der Tötung ihres Kameraden beschuldigten, durch allerhand Zeichen zu verstehen, daß ich überhaupt noch nicht in dem Walde gewesen wäre, und daß ich lediglich ein Kriegsgefangener, aber kein Spion sei.

Unter fortgesetzten Schlägen wurde ich nun nach
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W l a d i w o st o k transportiert und dort von einem Dolmetscher verhört. Wahrheitsgetreu gab ich meine Personalien als Kriegsgefangener an, verschwieg jedoch wohlweislich, den Tod des Kosaken verschuldet zu haben. Es sollte sehr lange dauern, bis in dem großen Rußland meine Identität festgestellt wurde. Ein russischer Schmied legte mir glich zwei eiserne Armbänder und zwei eiserne Fußfesseln an, die von den Füßen bis zu den Händen kreuzweise mit zwei starken Stahlketten verbunden waren. Diesen „Schmuck“ im Gewicht von etwa 1 Pud (nahezu 40 Pfund) mußte ich über einen Monat, Tag und Nacht hindurch, tragen! 23 1/2 Stunden Dunkelarrest in Einzelhaft untergebracht, durft ich jeden Tag eine halbe Stunde mit diesem „Schmuck“ spazieren gehen. Meine Kost bestand aus Wasser und Brot, sowie ab und zu aus etwas Stockfisch in getrocknetem Zustande. Sprechen durfte ich während des ganzen Monats nur, wenn ich, was dreimal in der Woche geschah, unter einer Eskorte von zwölf Mann mit aufgepflanztem Seitengewehr zum Verhör transportiert wurde. Der Offizier kommandiert bei meinem jedesmaligem Erscheinen: „Laden – legt an!“, worauf mit der Inquisition, die sich über einen Monat hinzog, jedesmall unter quälendsten Formen begonnen wurde. Den Russen war es eben um nichts weiteres zu tun, als daß ich den einem russischen Juden abgekauften Paß als mein ureigenstes Eigentum erklärte, was meine sofortige Erschießung als Spion zur Folge gehabt hätte; denn der von mir gekaufte Paß war, wie ich inzwischen erfuhr, Eigentum eines Höllanders gewesen, der vor dem Kriege in Rußland Spionage getrieben hatte und jetzt
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wegen dieses Verbrechens steckbrieflich verfolgt wurde. Auf die Ergreifung dieses Spions war natürlich eine hohe Belohnung ausgesetzt worden – daher das an Erpressung grenzende Verhör der Russen! Was fragt man auch viel nach einem simplen Kriegsgefangenen? Freilich sollten die Russen ihren Zweck nicht erreichen!

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Von einer schwedischen Schwester gerettet.
Anfang Juni 1915 erfuhr ich von meinem Posten – der, nebenbei gesagt, ein anständiger Kerl war – daß Schwester ... vom schwedischen Roten Kreuz in einem Lager Tschitas (Sibierien) war. Auf Umwegen bekam nun diese Schwester zu hören, daß ich als politischer Gefangener festgehalten würde. Anfang Juni erschien sie mit mehreren Offizieren und verlangte mich zu sprechen, was ihr nach vielen Bemühungen schließlich gestattet wurde. Da mir die Russen nun weiter nichts beweisen konnten, als daß ich als Kriegsgefangener auf der Flucht ergriffen worden war, mußten sie mich unter diesen Umständen schweren Herzens wieder frei lassen. Ein höherer russischer Offizier erklärte der Schwester, daß ich anderen Tages sofort ins Lager zurückgebracht werden würde. Ich bestand aber darauf, daß ich sofort ins Lager käme, denn ich hatte nachgerade das Vertrauen zu den Russen verloren. Nach langen Verhandlungen wurde meinem Ersuchen schließlich stattgegeben. Die weitere Folge war, daß mir jetzt endlich, nach 6 Wochen, meine Arm- und Fußfesseln abgemeißelt wurden, und
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ich meine Gliedmaßen wieder frei gebrauchen konnte. Ich bekam sodann eine russische Uniform, von der selbstverständlich alle Abzeichen abgetrennt waren. Zwei Offiziere, die schwedische Schwester, ein Dolmetscher und ich bestiegen alsdann den Schnellzug in Wladiwostok und fuhren nach Tschita zurück. Den wahren Sachverhalt behielt ich klugerweise für mich; trotzdem sagte die Schwester, wenn ich noch irgend etwas auf dem Herzen hätte, sollte ich es ihr nur ruhig mitteilen. Ob die Schwester irgend etwas gemerkt hat oder nicht – jedenfalls übergab sie mir während der Fahrt 100 Rubel mit dem Hinzufügen, zur Flucht dürfe sie mir kein Geld geben, wohl aber zu meiner persönlichen Pflege. Ich wußte Bescheid.

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Zurück zum Lager – krank!
Nach kurzer Zeit war ich wieder bei meinen Kameraden. Es war dort im Lager noch alles wie zuvor, nur mit dem Unterschied, daß die beiden fehlten, die mir seiner Zeit bei meiner Flucht behilflich gewesen waren; ich habe von ihnen leider nie wieder etwas gehört. Die furchtbaren Strapazen, die ich während und nach der Flucht hatte überstehen müssen, sollten für mich allerdings nicht ohne nachteilige Folgen bleiben. Nach zwei Tagen mußte ich ins Lazarett eingeliefert werden; Typhus, Skorbut und Malaria hatten meine Energie vollständig aufgelöst. Im Januar 1916 mußte ich das Lazarett, in dem inzwischen die Kopfrose ausgebrochen war, ungeheilt
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verlassen, nachdem der Arzt mir erklärt hatte, daß meine außerordentlich geschwächte Konstitution dieser neuen gefährlichen Situation gegenüber nicht standhalten könnte. Zu dem kaum einen Kilometer langen Weg vom Hospital bis zum Lager, den ich in Begleitung eines russischen Landsturmmannes bei 48 Grad Kälte zurücklegen mußte, gebrauchte ich fast drei Stunden – ein Beweis für meine übergroße Schwäche. Das Geld, das ich von der schwedischen Schwester erhalten hatte, tat mir jetzt große Dienste; Lebensmittel waren auch noch sehr billig. Mein Befinden besserte sich dann auch zusehends, und schon bald schaute ich aus ganz anderen Augen; auch bekam ich ab und zu Post aus der Heimat, hauptsächlich Geld und Tabak. Fleißig arbeitete ich jetzt wieder an einem neuen Fluchtplan; ich mußte aber erst den Winter verstreichen lassen, da eine Flucht bei 30 bis 50 Grad Kälte ausgeschlossen war.

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Meine Flucht in der Hängematte unter dem Güterwagen.
Im Mai 1916 war ich endlich so weit, daß ich ernstlich an die Ausführung meines Fluchtplanes denken konnte. Gegen Mitte des Monats wurden wir, 20 Mann stark, zum Bahnhof kommandiert. Im Besitz von einer Hand voll Rubel, allerdings ohne Waffen und ohne Platz, glaubte ich, jetzt über Finnland durchkommen zu können. Da ich nachts mit meinem Arbeitskameraden in einem Eisenbahnwagen schlief, erschien die
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Flucht verhältnismäßig leicht. Täglich beobachtete ich die auf der Strecke verkehrenden Munitionszüge und studierte die Beschaffenheit der Wagen, um mich zu vergewissern, ob und wo für mich noch ein Plätzchen zu ermöglichen war. Schon nach kurzer Zeit hatte ich einen für meine Zwecke geeignet erscheinenden Eisenbahnwagen, der zur Fahrt nach der deutschen Front bestimmt war, ausersehen. Größtenteils hielten die Züge nachts auf unserer Station. Am 20. Mai war ich endlich mit meinen Vorbereitungen fertig. Ich hatte mir eine Art Hängematte angefertigt, die ich stramm unterhalb des Wagens befestigte; auch hatte ich mir Proviant und Wasser für 48 Stunden besorgt. Ich zwängte mich, so gut es ging, in meine Lagerstätte unter dem Wagen, mußte aber zu meinem Leidwesen gleich feststellen, daß ich mich nur knapp umdrehen konnte. Doch viel Zeit zum Nachdenken blieb mir nicht, denn kaum war ich mit meinen Vorbereitungen zur Not fertig, als der Zug sich auch schon in Bewegung setzte. Nie im Leben hätte ich mir vorgestellt, daß die Sache, die ich mir so gut ausdacht zu haben glaubte, doch noch einen Haken haben könnte. Wir hatten ungefähr 20 Grad Wärme, bei mir unter dem Waggon aber wurde es immer kälter, je schneller der Zug fuhr. Nach meiner Berechnung waren wir bereits 6 Stunden gefahren, ohne anzuhalten. Meine Knochen fühlte ich kaum mehr, und mich einmal auf die andere Seite zu legen, vermochte ich auch nicht. Endlich hielt der Zug bei ziemlicher Dunkelheit; und ich hatte das Glück, daß mein Waggon unter einer Brücke oder einem Tunnel stand. So schnell, als die Situation erlaubte, sprang ich aus meinem „Bett“,
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da ich einen fürchterlichen Durst verspürte. Ich griff nach meiner 5 Liter fassenden Kanne, aber – weiß der Himmel, wie das geschehen konnte – sie war leer! Leben und Sicherheit aufs Spiel setztend, schlich ich mich am Bahndamm entlang, und richtig – vor mir erblickte ich köstliches Wasser. Schnell löschte ich meinen Durst und eilte sofort wieder zurück. Meine Geduld sollte vorerst aber noch auf eine harte Warteprobe gestellt werden. Endlich, als es bereits dunkel war, fuhr der Zug zu meiner Beruhigung weiter; denn den heutigen Tag sollte ich noch Asien verlassen.

Der Zug erreichte das U r a l - Gebirge und fuhr dann durch 52 Tunnels am Baikalsee entlang. Da wir nun nach Europa kamen, hieß es für mich, vorsichtig sein! In P e r m mußte ich meinen „Schlafwagen“ verlassen, und da hier jeder Bahnhof voll von Militär war, blieb mir weiter nichts übrig, als auf Schusters Rappen meine Reise weiter fortzusetzen. Die Verpflegung während der Fahrt hatte ich mir, wie man bei uns zu sagen pflegte, „besorgt“, stellenweise auch gekauft. Bekanntlich trug ich von meiner ersten Flucht her eine russische Uniform, aber Vorsicht war trotzdem geboten, weil die Abzeichen an ihr fehlten. Stiefel besaß ich nicht, meine Fußbekleidung bildeten Bakkies und Strohsandalen, und seit drei Monaten war ich nicht mehr rasiert.

In Perm durfte ich auf keinen Fall hinein. Während meiner Flucht habe ich selten Städte berührt. Zu meiner Rechten erblickte ich einen herrlichen Wald; ich schritt wohlgemut auf ihn zu und war bald so tief darin, daß ich von Menschen nichts mehr sah und
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hörte. Gegend Abend legte ich mich vorsichtshalber in einen dicht bewachsenen Baum zum Schlafen nieder und setzte bei Sonnenaufgang meine Wanderung fort. Da mein Proviant allmählich zu Ende ging, mußte ich darauf bedacht sein, wieder etwas Eßbares zu erreichen; es sollte aber noch ziemlich lange dauern. Wasser war freilich genügend vorhanden. Zu meiner Beschämung muß ich aber sagen, daß ich die Orientierung verloren hatte. So zog ich denn 12 Tage im Walde kreuz und quer und hatte sum Essen weiter nichts als Walderdbeeren und Wasser – also einen rein vegetarischen Mittagstisch, so daß es mir schon ganz komisch zu Mute war. Auch Wölfe, die im Sommer ungefährlich sind, bekam ich gelegentlich zu Gesicht. Zweimal begegnete mir sogar ein zottiger Brummbär, doch: tu ich ihm nichts, tut er mir auch nichts – so schritten wir, uns mißtrauisch anblickend, vorüber.

Zu meiner größten Freude entdeckte ich am 13. Tage eine Lichtung. Hier war schon wieder „Kultur“: Wurzel- und auch Kartoffel- und Rogenfelder breiteten sich vor mir aus, und ich nahm nicht mit Unrecht an, daß hier auch Menschen wohnen müßten. Vorsichtig wie ein Schleichdieb schlängelte ich mich an eine vor mir auftauchende menschliche Behausung heran. Auf dem Hofe machte sich eine alte Bauersfrau zu schaffen; lich ließ meine Augen umherwandern, um festzustellen, ob auch Männer da waren. Zum Glück erblickte ich niemanden. Etwas ruhigeren Herzens näherte ich mich der Bauernfrau und erbat von ihr ein Stück Brot. Nachdem sie mich eine Zeitland von oben bis unten stillschweigend gemustert hatte, sagte sie schließlich kurz
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angebunden: „Komm mit!“ In dem Wohnraum, der zu gleicher Zeit als Küche, Schlafstube und – Hühnerstall diente und ab und zu wohl auch Scheinen Aufenthalt bieten mochte, duftete es ziemlich appetitlich nach eßbaren Dingen. Sofort gab mir die gute alte Frau etwas zu essen. Wieviel ich zu mir genommen habe, meiß ich nicht mehr, eines aber steht fest, daß ich seit langer Zeit zum ersten Male wieder wirklich satt geworden bin. Im Hause dieser Frau, die mich mit rührender Sorgfalt pflegte, blieb ich noch etliche Tage. Ihr Mann war, wie sie mir umständlich erzählte, in deutscher Gefangenschaft. Ich erzählte ihr, daß ich auf der Flucht sei, und versprach ihr, nach meiner Heimkehr ihren Mann in Döberitz aufzusuchen. Unter diesen Umständen wollte sie mich denn auch nicht zulange aufhalten. Wir beratschlagten, wie ich am besten durch Perm kommen könnte; während meiner zwölftägigen Wanderung durch den Wald muß ich nämlich wohl ständig im Kreise herumgelaufen sein. Endlich kam der Frau, die mir gerne helfen wollte, ein guter Gedanke. Sie belud mit meiner Hilfe einen Wagen mit Heu; ich mußte mich so geschickt zwischen das Heu verkriechen, daß von mir nichts mehr zu sehen war; sie selbst ergriff die Zügel, und los ging die immerhin nicht ungefährliche Fahrt! Unser Fuhrwerk kam denn auch wohlbehalten durch Perm durch. In einsamer Gegend kroch ich alsdann aus meinem Versteck heraus, nahm herzlichen Abschied von der guten Frau und nun gings weiter in Richtung N i s ch n i - N o w g o r o d. Speck und Brot hatte ich mehr als zuviel bei mir; ich sollte ja ihrem Mann etwas mitbringen.

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Die Schrecken der russischen Revolution.
Meine letzte Krankheit war übrigens doch noch nicht ganz verschwunden; ich fühlte mich von Tag zu Tag elender und erreichte in völlig erschöpftem Zustande den Ort B a r o m s ch e , wo ich mich in einem Kriegsgefangenlager einstellte. Ich konnte einfach nicht mehr weiter. Bei meinem zwei Monate währenden Aufenthalt dort selbst merkten auffallenderweise nicht einmal die Russen etwas von meiner Anwesenheit im Lager. Nach dieser Zeit setzte ich, wieder etwas zu Kräften gekommen, meine Wanderung fort und erreichte in ungefähr 14 Tagen K u n a w i n o , eine Vorstadt von Nishnij-Nowgorod. Hier bekam ich zur Abwechslung die Malaria, die sich auch heute noch von Zeit zu Zeit bei mir einstellt. Um wieder gesund zu werden, entschloß ich mich kurzerhand, mich der Militärbehörde zu stellen. Ich wurde sofort in ein Lazarett befördert und verbrachte dort den Winter 1917.

Bis zum Ausbruch der ersten russischen Revolution verblieb ich im Lazarett K u n a w i n o. Eines Morgens erschien ein Russe in unserem Zimmer und rief: „Der Krieg ist borbei, der Zar ist tot, jetzt kommt euer Wilhelm dran!“ Sämtliche Türen wurden uns geöffnet. Der Russe erklärte weiter: „Ihr seid jetzt keine Kriegsgefangene mehr!“ Wir lagen zu 10 Mann im Zimmer. Weil wir nun alle gern frei sein wollten, ging ein jeder los und wollte sich sein „Zeug“ holen, aber die Kammer war leider verschlossen. Also zurück in die Betten!

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Als Bäcker.
Tags darauf erschienen im Lager drei Russen und frugen, ob einer unter uns sei, der das Bäckerhandwerk verstehe. Die Russen glauben offenbar, daß sie jetzt als Herren nicht mehr zu arbeiten brauchten! Nach zweimaligem Fragen meldete ich mich als Bäcker. Sofort bekam ich mein Zeug und einen Drillichanzug, und dann ging's zur Bäckerei. Einer der Russen zeigte mir das Mehl und den Ofen und sagte beim Weggehen lakonisch: „Morgen früh mußt Du für 200 Mann Brot fertig haben! Auf Wiedersehen!“ – Ja, was nun? Vom Brotbacken hatte ich natürlich keine blasse Ahnung! Kurz entschlossen begab ich mich zum Kommandanten und bat ihn, er möchte mir einige Hülfskräfte zur Verfügung stellen, da ich doch allein das Brot für so viele Menschen unmöglich herstellen könnte. Brummig erwiderte er: „Hol Dir, soviel du haben willst!“, und der Schreiber überreichte mir einen Ausweis. Jetzt kehrte ich wohlgemut zu dem großen Gefangenenlager Nishnij-Nowgorod zurück. Mein amtliches Schreiben öffnete mir sämtliche Türen, und im Nu hatte ich drei richtige Bäckermeister gefunden: einen Berliner, einen Wiener und einen Türken. Der „Dreibund“ war komplett! Von nun an begann für uns ein wahres Schlaraffenleben, und wir machten auch richtig Gebrauch davon. An Kräften nahm ich infolge der guten reichlichen Kost zusehends zu; auch Geld verdiente ich zur Genüge, und an die Heimat hätte ich wahrhaftig nicht mehr gedacht, wenn ich nicht verheiratet gewesen wäre! Bis Weihnachten 1917 blieb ich in Nowgorod. Der russischen Sprache war ich allmählich vollkommen mächtig
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geworden, und der Name „Kriegsgefangener“ kam für mich jetzt nicht mehr in Frage. Geld spielte übrigens bei eunserem „Kleeblatt“ keine Rolle, denn das – Unterschlagen hatten wir von den Russen gründlich gelernt!

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Rotgardist.
Mit ca. 500 Rubeln bestieg ich eines tages als russischer Handelsmann den Schnellzug Nishnij-Nowgorod—Moskau. Diese altertümliche Kaiserstadt mit ihrem weltberühmten Kreml und den vielen Kirchtürmen und Kuppeln sollten bald ein anderes Gepräge bekommen. Es brach nämlich die zweite Revolution aus. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, erfaßt mich noch heute Entsetzen und Grauen. Tote Menschen, Pferde und Hunde ließ man auf offener Straße verwesen, die Luft war nicht zum Aushalten. Jeder einigermaßen sauber angezogene Mensch wurde von den umherstreifenden Bolschewisten ausgeplündert und obendrein noch fürchterlich mißhandelt. Für mich war hier jetzt auch keine Lebensmöglichkeit mehr, ich mußte – ob ich wollte oder nicht – ebenfalls „Roter Gardist“ werden, wenn ich nicht elendiglich verhungern wollte.

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Magazinverwalter.
Bis an die Zähne bewaffnet, fuhren wir eines Tages mit 500 Rotgardisten nach P e t e r s b u r g , und
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so ham ich immer näher der deutschen Granze. In Petersburg wurde zu damaliger Zeit sehr viel deutlich gesprochen. Bald hatte ich mich mit einer deutschsprechenden Familie angefreundet, und wir erwogen allen Ernstes den Plan, gemeinsam Rußland zu verlassen – es sollte aber anders kommen: Die russischen Zivilisten waren infolge der wachsenden Not nur zu bald gezwungen, ihre ganzen Habseligkeiten gegen Lebensmittel einzutauschen. „Verdienstmöglichkeiten“ gab es nur bei der Roten Armee. Sämtliche Fabriken und Geschäfte waren stillgelegt, der russische Bolschewist wollte nur plündern und befehlen. Richtige Russen-Wirtschaft! Einem glücklichen Zufall hatte ich es zu verdanken, daß ich einen Posten als Magazinverwalter erhielt; als solcher hatte ich Gelegenheit, sorgenlos zu leben und manch armen deutschen Russen mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Mit einem Fuß stand ich dabei allerdings immer im Gefängnis oder auf dem – Kirchhof; aber aus Erfahrung wußte ich, wie weh der Hunger tat. In meiner Stellung verfügte ich sogar über ein Militär-Auto, das ich zu jeder Zeit frei benutzen konnte. – Ich hatte eben das volle Vertrauen der Russen gewonnen, offenbar weil ich ihnen die Arbeit abgenommen hatte! An Feinden sollte es mir aber auch nicht fehlen, und von allen diesen waren die Tschechen am schlimmsten. Die Achtung vor diesen Burschen aber hatten die Russen verloren, während der deustche Soldat in Rußland auffallenderweise jetzt immer mehr Achtung genoß – man denke sich nur meine gehobene Stellung als deutscher Kriegsgefangener!
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Aber die Herrlichkeit sollte nicht von allzu langer Dauer sein. Bei der Hauptregierung, die in Moskau saß, war nämlich von irgendeiner – vermutlich tschechischer – Seite die Anzeige eingegangen, daß ein deutscher Kriegsgefangener Verwalter einer russischen Versorgungsmagazins sei. Eines Tages erschien ein Beamter der politischen Abteilung bei mir und legte mir nahe, Rußland so schnell als möglich zu verlassen, da mir wegen Unterschlagung von Heereseigentum die Todesstrafe drohe; er )der Beamte) habe den Auftrag, mich zu beobachten, bis die Moskauer Abteilung eingetroffen sei, um hier eine gründliche Revision vorzunehmen. Ich wußte nun, was die Stunde geschlagen hatte. Ohne mich lange zu besinnen, ließ ich meinen Chauffeur vorfahren und forderte ihn auf, sich reichlich mit Brennstoff zu versehen und mit mir loszufahren. Zu meinem Verdruß merkte ich indes, daß der Chauffeur nicht so wollte, wie er sollte; er mußte wohl von irgendeiner Seite Wind bekommen haben. Alles zurücklassend, wa ich mir an Wertsachen gekauft hatte, bestieg ich nun eilig meinen Brennabor-Wagen und fuhr im schnellsten Tempo aus Petersburg heraus. Unterwegs wollte mein Chauffeur, offenbar in der Absicht, die Weiterfahrt unmöglich zu machen, eine künstliche Panne hervorrufen, aber mein gegen ihn in Anschlag gebrachter Browning machte ihn sofort meinen Willen gefügig und in rasender Fahrt ging's nun der heiß ersehnten deutschen Frontlinie entgegen, die augenblicklich in Waffenstillstand lag.

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Erreichen der deutschen Front!
Am 2. Juli verließ ich in S t a r r i e - R u s s i a , ungefähr 10 Kilometer von Dünaburg, meinen Wagen, schoß die vier Reifen entzwei und schritt wohlgemut der Heimat entgegen. Eine gewichtige Frage war nun noch für mich zu lösen: Wie komme ich als „Roter Gardist“ nach Deutschland? Ich wartete zunächst die Nacht ab, dann schlich ich mich durch die neutrale Zone und tauchte hinter einem deutschen Landsturmmann auf. Beinahe hätte dieser, der wohl an eine feindliche Ueberrumpelung glauben mochte, mich kurzer Hand erschossen. Ein beherzter Ausruf meinerseits: „Du hast wohl einen Vogel!“ hinderte ihn an seinem Vorhaben. Verwundert stellte er die Frage: „Was bist Du für ein Landsmann?“, worauf ich kurz und bieder erwiderte: „Hamburger!“ Da klang mir con seinen Lippen ein freudiges, herzliches „Hummel, Hummel!“ entgegen! Zu seiner größten Freude stellte ich mich dann vor: „M.... M....“ Mit Tränen in den Augen umarmte ich den Landsturmmann, ein Bremer Kind, und küßte ihn vor lauter Glücksgefühl. Ein und eine halbe Stunde lang tauschten wir unsere Erinnerungen aus und unterhielten uns über unser deutsches Vaterland.

Vorläufig war ich aber noch kein freier Mann. Ich ging daher mit dem Posten zurück und mußte so lange auf der Feldwache bleiben, bis diese abgelöst wurde, was noch acht Stunden dauerte. Immer noch als „Ueberläufer“ behandelt, zog ich alsdann in Dünaburg ein. Ein kurzes Verhör, und schon arbeitete der Telegraph nach Riesenburg in Westpreußen. Zwanzig Minuten
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später waren meine Angaben von Riesenburg bestätigt. Sämtlicher Offiziere und Mannschaften in Dünaburg überhäuften mich, nachdem sie meine Erlebnisse während der Gefangenschaft und auf der Flucht erfahren hatten, mit Glückwünschen, und die Regimentskapelle ließ es sich auf mein anhaltendes Bitten nicht nehmen, „Deutschland, Deutschland über alles“ und „Stadt Hamburg an der Elbe Auen“ zu intonieren. Dann verließ ich mit dem beigegebenen Sanitäter Dünaburg.

Am Abend des 17. Juli lag ich in C e r c e - S ü d in Quarantäne. Da am 30. Juli ein Transport über Berlin Richtung Hamburg abgehen sollte, bat ich den zuständigen Offizier um die Erlaubnis, mitfahren zu dürfen. Dieser gab für den Fall, daß keine gesundheitlichen Bedenken entgegenständen, seine Zustimmung. Nachdem ich mich entkleidet hatte, unterzog er mich einer gründlichen Untersuchung, fand aber keinerlei Spuren einer ansteckenden Krankheit an mir und sagte kurz, aber freundlich: „Na, meinetwegen fahr', aber Du mußt für mich ein Paket mit nach Hamburg nehmen!“ Nie in meinem Leben habe ich in unbekleidetem Zustande einen größeren Luftsprung gemacht als in diesem Augenblock. Natürlich erklärte ich mich gern bereit, das Paket mitzunehmen. Noch am selben Tage fuhr ich nach Warschau, um dort Einkäufe zu machen; u. a. mußte ich mir doch als Ersatz für den mir von den Russen geklauten Trauring einen neuen kaufen. Russisches Geld hatte ich Gott sei Sank genügend bei mir. Ich wechselte meine Rubelscheine in deutsches Geld um, und so konnte der Einkauf vonstatten gehen. Schwer beladen kehrte ich nach Cerce-Süd zurück.
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Am 30. Juli 1918 bestieg ich den Zug Warschau—Berlin—Hamburg. Am 2. August – also nach rund vier Jahren – sah ich zum ersten Male mein liebes H a m b u r g wieder. Die „schlanke Linie“ war, wie überall in deutschen Landen, auch hier modern geworden, ich dagegen hatte meinen Körper nicht darauf eingestellt, denn ich wog damals über zwei Zentner!

Mit einem deutschen Gruß möchte ich nun diesen Bericht schließen und füge dankbaren Herzens hinzu:
„Gott verläßt einen Deutschen nicht!“


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