Die Winterschlacht in Masuren im Februar 1915.

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Ken S.
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Die Winterschlacht in Masuren im Februar 1915.

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Post by Ken S. » 10 Jun 2020, 02:27

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Die Winterschlacht in Masuren
im Februar 1915.


Von Major d. Res a. D. H a n s v. R e d e r n , damals Hauptmann d. Res. und Kompagnieführer im Infanterie-Regiment Graf Barfuß (4. Westfäl.) Nr. 17.

Aus Deutschlands großer Zeit will ich erzählen, aus dem Anfange des Kriegsjahres 1915. Zur Ehre jedes an den großen Ereignissen Beteiligten sollen die nachstehenden Zeilen in jedem Hause, in jeder Hütte, da noch ein Funken Stolz auf die großen Taten unseres einst so herrlichen Heeres wohnt, gelesen werden. Sie mögen den Angehörigen der Heimgekehrten Zeugnis davon geben, daß jeder einzige Teilnehmer an dem großen Geschehnis ein Held gewesen sie mögen aber auch den Hinterbliebenen derer, die ihr Leben für die große Sache lassen mußten, den Trost geben, daß sie alle gefallen sind in dem Glauben an ein großes, mächtiges deutsches Vaterland, an den Sieg der Gerechtigkeit über den Ansturm unserer zahllosen Feinde.

Wer weiß es nicht mehr, was damals schon der Name Hindenburg bedeutete? Ich entsinne mich des Septembers 1914. Da bekam ich in meine Kompagnie einige Unteroffiziere und Mannschaften, die die erste Masurenschlacht mitgemacht hatten, die aber wegen leichter Verwundung oder Krankheit nicht zu ihrem Truppenteil zurückkamen. Diese Leute galten damals schon als etwas ganz besonderes bei uns. Die „Hindenburger“ hießen sie! Jeder von uns suchte ihnen etwas Gutes anzutun, jeder beneidete sie, weil sie unter dem großen Mann hatten fechten dürfen! Jetzt im Februar 1915 waren wir selbst dazu berufen! Das einzige Gefühl, das wir kannten, war Stolz. Alle bevorstehenden Strapazen, Entbehrungen und Opfer traten zurück hinter dem erhebendem Bewußtsein, unter Hindenburg zu stehen. Nicht nur persönliche Empfindung von mir ist diese Verehrung für den großen Meister des Schlachtfeldes. Nein! Ich habe stets mit und unter meinen Leuten gelebt und habe oft genug die Äußerungen der Freude und des Stolzes aus ihrem Munde gehört, daß gerade wir zum Werkzeug Hindenburgs ausersehen waren. Ein schöner, guter Geist beseelte die Truppen.

Kaum einer der Daheimgebliebenen kennt wohl einen russischen Winter? wir kannten ihn selbst noch nicht, sollten ihn aber bald genug fühlen. Aus dem Ende Januar 1915 schon grünenden

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Frankreich wurden wir nach Rußlands Schnee und Eis versetzt. Zwar lag unser Aufmarschgebiet noch auf deutschem Boden, in der Gegend von Tilsit, aber der Winter ist dort schon fast der gleiche, wie bei den östlichen Nachbarn. Die Truppen, die vom Westen Nach dem Osten geworfen wurden, waren nur ganz notdürftig mit Wintersachen versehen. Nur den Fahrern vom Bock konnten pelze geliefert werden. Im übrigen bestand unser aller Ausrüstung für den russischen Winter in dem ungefütterten Soldatenmantel, einem gewebten Kopfschützer, Pulswärmern und Handschuhen. So angetan fanden wir uns nach einer Eisenbahnfahrt von viermal 24 Stunden in des fernen Ostens winterliche Landschaft versetzt.

Seit dem August 1914 hatte der Russe ein Stück deutschen Landes besetzt und gebrandschatzt. Zwar hatte die Schlacht bei Tannenberg im August 1914 Ostpreußen zum Teil von den Eindringlingen befreit. Aber noch immer saß der Russe auf deutschem Boden. Während der Wintermonate hatten deutsche Truppen in verschneiten und vereisten Schützengräben dem an Zahl doppelt überlegenen russischen Heere gegenüber standgehalten. Sie hatten zahlreiche Anstürme siegreich abgewiesen. 100 000 deutsche Männer, zum großen Teil Landwehr und Landsturm, hatten auf einer Strecke von 170 km der etwa 220 000 Mann starken russischen 10. Armee Monate hindurch die Zähne gezeigt. Hier hatte es sich erwiesen, daß an Zahl unterlegene deutsche Männer, in einem willen vereint, in dem Bestreben deutsches Land zu schützen, dem russischen Bären Halt zu bieten vermochten.

Der Winterschlacht in Masuren war es vorbehalten, Ostpreußen ganz vom Feinde zu säubern und den Krieg weit fort von den Grenzmarken unseres Vaterlandes auf feindliches Gebiet zu tragen. Nicht unabsichtlich war von dem großen Feldherrn Hindenburg gerade der strenge Winter zu dem Unternehmen gewählt worden. Einerseits konnte kein Kenner der russischen Witterungsverhältnisse, also der Russe selbst am allerwenigsten, mit einem großen Angriff in dieser Jahreszeit rechnen. Jeder hätte dem Unternehmen von vornherein das Todesurteil gesprochen. Andererseits hätte, wenn der Angriff nicht im Winter gemacht wurde, die Säuberung deutschen Landes um viele Monate hinausgeschoben werden müssen, weil die Zeit nach der Schneeschmelze die unbefestigten russischen Wege grundlos aufweicht und dann die Schwierigkeiten des weit geplanten Vormarsches noch erheblich größer geworden wären.

Der 7. Februar war deshalb für den Beginn der Winterschlacht angesetzt worden.

Zwei deutsche Armeen waren Zur Durchführung der Schlacht ausersehen: die 8. unter General der Infanterie v. Below und die 10. unter General-Oberst v. Eichhorn. Die erstere hatte während der vergangenen wintermonate in den ostpreußischen Stellungen

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sich mit dem Russen gemessen, die letztere war teils aus bestehenden, teils aus neu gebildeten Armeekorps für diesen Zweck aufgestellt worden. Männer aller deutschen Stämme und jeden Lebensalters waren in dem Heere vertreten, dem man die Riesenaufgabe zumutete, vom jungen 18jährigen und noch jüngeren Kriegsfreiwilligen bis zum alten 39jährigen Landwehrmann stand alles in Reih und Glied. Ja sogar zahlreiche Landsturmbataillone sollten den Tanz mitmachen. Sie alle beseelte das felsenfeste Vertrauen und die Zuversicht, daß das, was Hindenbura für möglich hielt, auch zu einem guten Lüde geführt werden könne. An ein Mißlingen dachte Niemand.

Hindenburgs großer Plan ging dahin, daß die 8. Armee den ihr gegenüberliegenden Gegner fesseln und zu diesem Zweck in ihren Stellungen bleiben sollte, die sich von der russischen Grenze südlich des Spirding-Sees bis an die Szeszuppa, einem linken Nebenfluß des Memel, östlich Tilsit erstreckten. Inzwischen hatte die 10. Armee um den feindlichen rechten Flügel sowie ein Teil der 8. Armee um den feindlichen linken Flügel herumzugreifen und in weitem Bogen auszuholen, um die Russen von rückwärts zu fassen und ihnen den Rückzug abzuschneiden. Es war also nicht Endzweck der Winterschlacht in Masuren, nur den Feind aus deutschem Lande zu verjagen, nein man wollte das gewaltige russische Heer vollkommen vernichten, man wollte das russische Reich um eine starke Armee ärmer machen.

Ich will im folgenden nur möglichst wenig Ortsnamen nennen und, wo es notwendig ist, nur solche erwähnen, die jeder auf dem Schulatlas seiner Kinder finden kann. Dem Leser dieser Zeilen, der die gewaltige Schlacht selbst mitgemacht hat, werden die einzelnen Namen noch im Gedächtnis sein, er wird den Seinen nähere Erklärungen geben können.

Am 7. Februar in aller Frühe begann der Angriff zunächst auf dem rechten Flügel der 8. Armee durch das verstärkte 40. Reserve-Korps. Ahnungslos wurde der Russe durch den Angriff gefaßt, ahnungslos blieb der nicht angegriffene Teil der Front. Eisiger Schneesturm peitschte von Osten her unseren Truppen die Eiskristalle wie Nadeln in das Gesicht, Wege und Schienenstränge waren tief verschneit und durch teils meterhohe Verwehungen schier ungangbar. Trotzdem kannte das vorwärtsdringen des Reserve-Korps keinen Halt. Bis zu 40 km marschierten an diesem Tage Teile des Korps und am Abend konnte gemeldet werden, daß die Russen aus stark befestigten Stellungen nach heißem Kampfe geworfen, ein feindlicher Gegenstoß aus der rechten Flanke siegreich abgewehrt und Hunderte von Gefangenen, 6 Geschütze, mehrere Maschinengewehre und sonstiges Kriegsmaterial erbeutet seien. Anstrengungen und Aufbieten aller Willenskraft hatte jeden Mann des 40. Reserve-Korps schon dieser erste Tag gekostet, jeder wußte,

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was er geleistet hatte. Und doch war es nur der Anfang gewesen. Größeres stand noch bevor.

Am kommenden Tage sollte das 40. Reserve-Korps im Süden den Angriff fortsetzen, während im Norden die 10. Armee mit dem Angriff beginnen sollte. Der glänzende Beginn der Kämpfe blieb ein gutes Vorzeichen für den gesamten Verlauf der großen Schlacht.

Nicht eine langatmige Schlachtenschilderung sollen die folgenden Ausführungen bringen. Ich will mich darauf beschränken, Einzelheiten der großen Angriffsbewegung zu erzählen, wie ich sie selbst erlebt habe. So wie bei unserem Regiment lagen die Verhältnisse bei allen Truppenteilen, ein jeder hatte mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen. So kann das, was ich im einzelnen gesehen habe, gut verallgemeinert werden.

Ihr Väter, Mütter, Frauen, Kinder und Geschwister, kurz alle, die Ihr nicht draußen Eure Angehörigen habt begleiten können, wißt Ihr, was dem Feldsoldaten die Feldküche, oder wie sie so treffend genannt wurde, die Gulaschkanone bedeutete? Dieses allgemein beliebte Fahrzeug war des Soldaten ein und alles, war die Feldküche bei der Truppe, dann wurden die größten und längsten Marschanstrengungen leicht, winkte doch in erreichbarer Nähe die Ausgabe der warmen Mahlzeit und des Kaffees. „Essen und trinken hält Leib und Seele zusammen!" Dieses Sprichwort paßt auf den Feldsoldaten. Könnt Ihr Euch aber denken, Ihr Daheimgebliebenen, was es heißt, wenn die Gulaschkanone aus irgendeinem Grunde zurückbleibt? Der Gesang und die Scherze verstummen, die gute Laune ist vorüber, kein angenehmes Ziel winkt nach überstandenem, harten Marsche, die rechte Lust am Soldatensein ist dahin, wenn man sich das einmal vergegenwärtigt und wenn man dann bedenkt, in welchem grundlosen Schnee die ostpreußischen und russischen Wege und Wälder damals steckten, dann kann man sich einen Begriff machen, wie von vornherein die Verpflegung der Truppen in Frage gestellt war. Zwar hatten wir vor den Feldküchen und vor den Küchenbeiwagen, die auf untergeschraubte Schlittenkufen gestellt waren, die kräftigsten Pferde. Aber es war nicht zu leisten. Besonders energische Unteroffiziere und Mannschaften waren den Küchen zugeteilt, sie konnten den hungernden Kameraden nicht helfen. In den verschneiten und unter dem Schnee vereisten wegen kam solch ein Fahrzeug plötzlich ins Rutschen und ehe sich die Fahrer und Begleiter etwas böses dachten, lag es im Straßengraben. Stundenlange Arbeit und Anstrengung gehörte dazu, die umgestürzte, schwere Feldküche wieder flott zu machen. Wo war die Kompagnie inzwischen auf dem rastlosen Vormärsche geblieben? Ich weiß genau, daß die Küchenmannschaften Tag und Nacht auf den Beinen waren, daß sie den Pferden nur die allernotwendigsten Futter- und Ruhepausen gönnten. Sie wußten, daß die Kameraden vorn hungerten und konnten nicht helfen. Ich habe es erlebt — zweimal war

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es während der Masurenschlacht — daß wir unsere Feldküche (sie war an den Pferden leicht zu erkennen), in einer Entfernung von 11/2—2 km am Horizonte auftauchen sahen, wenn wir des Morgens beim Hellwerden gerade weiter marschierten. An ein Warten war natürlich nicht zu denken. Nicht einen Tag ging es so, nein tagelang. Die knappen Vorräte, die jeder bei sich trug, die eisernen Portionen, waren bald verzehrt. Hatte der plündernd und brennend zurückgehende Russe in einem verschonten Gehöft wirklich ein Stück Rind oder ein Schwein vergessen, so konnten wir nichts damit anfangen. Zum Schlachten und Kochen hatte die Truppe niemals Zeit. Früh morgens sah uns die aufgehende Wintersonne schon auf den verschneiten Straßen rastlos gen Osten pilgern und des Abends wurde bis spät in die Nacht hinein marschiert. Galt es doch den Russen, der in teilweise heißem Ringen nach zähem Widerstande geworfen wurde, nicht zur Ruhe kommen zu lassen, sollte er doch durch Umgehung um seinen rechten Flügel im Rücken gefaßt werden. So konnten wir uns in den wenigen Nachtstunden, die uns zur Ruhe blieben, nicht mit langwierigem Schlachten und Kochen aufhalten. Eine Reihe der zu Tode erschöpften Leute hätte zu diesem Zweck die Nachtruhe ganz entbehren müssen. Kartoffeln oder Kartoffelsuppe kochten wir uns miteinander, aber Salz hatten wir nicht dazu. Das war, wie man sich denken kann, ein zweifelhafter Genuß, aber es ging schnell und füllte den knurrenden Magen. In dem Kriegstagebuch einer Division habe ich gelesen, daß das Fleisch von Pferden, die wegen Entkräftung geschlachtet wurden, zur Stillung des quälenden Hungers der armen Soldaten verteilt worden ist. Um unser leibliches Wohl war es also nicht zum Besten bestellt.

Wie war es denn mit der Unterkunft? Ein Bett kannten wir schon lange nicht mehr. Froh waren wir, wenn wir eine Scheune fanden, die der wahnwitzigen Brandlust der Russen entgangen war, wenn Stroh oder Heu genug vorhanden war, in das wir uns eng aneinandergedrückt ausstrecken konnten. Je enger wir lagen, desto wärmer war es, denn außer unseren dünnen Mänteln und Zeltbahnen hatten wir ja nichts zum Zudecken. Ein Dach über dem Kopfe und vier Wände, die uns den eisigen Februar-Schneewind vom Leibe hielten, war alles, was wir verlangten und oft genug auch noch entbehren mußten. Manchesmal war die Raumeinschränkung recht arg. In einem Hause, das nur einen einzigen bewohnbaren Raum etwa von der Größe 5x6 m hatte — eine Scheune war nicht mehr vorhanden — nächtigte ich einmal mit meiner ganzen Kompagnie. Es mögen damals noch alles in allem 130 Köpfe gewesen sein. Das Bild wäre es wert gewesen, von einem Photographen festgehalten zu werden. Auf den Bänken und unter den Bänken, auf dem Tisch und unter dem Tisch, auf dem Ofen, auf der Kommode, auf dem ganzen Fußboden lagen und hockten wir Mann an Mann und schliefen nach des Tages Last und Mühe genau so gut, wie daheim im Bett.

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Hätte unser Preußenkönig, der alte Fritz, uns damals gesehen, er hätte seine Freude an uns haben können. Wir sahen, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, wie die Grasteufel aus, und daß wir beißen konnten, mußte der Russe täglich fühlen. Waschwasser war uns genau so fremd geworden, wie alle anderen Bequemlichkeiten. Der Kopfschützer, den wir gegen die grimmige Kälte trugen, kam nie herunter. Tag und Nacht behielten wir ihn um, denn es war ja auch in den Unterkünften nicht geheizt. Die Folge davon war, daß uns der Bart an Wangen und Kinn durch das Gewebe des wärmenden Schützers hindurchwuchs. Schließlich konnten wir ihn nur unter gleichzeitigem Ausreißen des Backenbartes abziehen. Stiefel wurden niemals von den Füßen gezogen, wir lagen ständig in höchster Alarmbereitschaft und durften uns solchen Luxus nicht erlauben.

Bei all diesem geschilderten Mangel an des Leibes Nahrung und Notdurft war die Stimmung der gesamten Truppe die denkbar beste. Jedem einzelnen schwebte das hohe Ziel vor: Säuberung deutschen Bodens vom Feinde, Züchtigung des räuberischen, brandschatzenden Eindringlings. Man sah, der Mensch gewöhnt sich an alles; Hunger, Durst, Ermattung und Frost konnten unsere Soldaten nicht entmutigen. Eine namenlose Wut erfaßte uns, wenn der Russe aus irgendeiner Stellung geworfen zurückgehen mußte und wenn wir überall, soweit wir blicken konnten, die Dörfer und Gehöfte in Flammen aufgehen sahen. Mag es auch aus taktischen Gründen Notwendigkeit für den geschlagenen Feind sein, daß er uns die ersehnte Unterkunft, die Verpflegung durch Feuer vernichtete, so waren doch die zunächst Leidtragenden unsere eigenen Landsleute, die Ostpreußen, die wir von dem russischen Joche befreien wollten. Das Gefühl, endlich diese Untaten zu rächen, feuerte uns stets zu neuen, unerhörten Kraftanstrengungen an. Den russischen Horden mußten wir an das Leder.

Eines besonders anstrengenden Marsch- und Gefechtstages entsinne ich mich. Früh morgens bei dämmerndem Tageslicht waren wir mit knurrendem Magen aufgebrochen. Es sollte gelten, an diesem Tage die ostpreußisch-russische Grenze bei Schirwindt zu überschreiten. Der Russe wollte sich nicht stellen; Stunde um Stunde marschierten wir, nur kurze Ruhepausen wurden gemacht, um Mann und Pferd zu Atem kommen zu lassen. Meterhoch lag der Schnee. Stellenweise mußten wir uns durch Schneewehen hindurcharbeiten, in denen wir bis unter die Arme versanken. Stündlich wurden die vordersten Kompagnien, die im Schnee Bahn zu treten hatten, gewechselt, vorwärts hieß es und vorwärts ging es. Den ganzen Tag marschierten wir so, der frühe Winterabend sank hernieder, die Nacht kam. Durch brennende Dörfer, vom Russen angezündet, wurde uns der weg mitunter taghell erleuchtet. Auch in der Nacht ging es weiter. Unwillkürlich begann man an den Zug von Napoleons Heerscharen gen Moskau im Jahre 1812 zu denken. Wollten

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auch uns die Russen so in die Falle locken? Jedes frohe Wort aus den Reihen unserer Leute war verstummt, mit zu Boden gerichtetem Blick schleppte sich die Infanterie unter der Last des schweren Gepäckes voran. Alle hundert Meter fast brach einer unserer Leute vor Ermattung zusammen. Ein Liegenbleiben wäre dem Tode durch Erfrieren gleich gewesen. Alle unsere Energie mußten wir Vorgesetzten aufwenden, um die armen, gefallenen Leute wenigstens bis zum nächsten schützenden Dach zu schleppen. Reiche Arbeit hatten wir im Verein mit den Ärzten. Da wurde uns wohl bange um das Herz, wenn wir uns ausmalten, wie es werden sollte, wenn wir mit diesen überanstrengten Leuten plötzlich vom Feinde angegriffen würden.

So kamen wir dem deutschen Grenzstädtchen Schirwindt immer näher, der fahle Wintermorgen begann zu dämmern, es war fast 6 Uhr früh. 24 Stunden waren wir jetzt ununterbrochen auf den Beinen. Da plötzlich fallen Schüsse aus Gehöften, die wir rechts vorwärts, abseits vom Wege undeutlich erkennen konnten. Man sah das Aufblitzen beim Abschuß, man hörte die Geschosse um uns pfeifen, vergessen war der Zuständige Marsch, der Hunger, die Müdigkeit! Wie auf dem Exerzierplatz waren die vordersten Compagnien schnell entwickelt und vorwärts ging es querfeldein auf den Feind. Endlich sollte man ihn fassen, es war wie eine Erleichterung! Aus Schirwindt, das vollkommen zerstört war, wurde der Russe herausgeworfen, mit Hurra ging es über die russische Grenze, Wladislawow, die russische Grenzstadt wurde genommen. Um 11 Uhr vormittags rückten wir zum ersten Male auf russischem Boden ins Quartier und hatten die Freude, von den flüchtenden Russen geheizte Unterkünfte und reichliche Verpflegung vorzufinden. Das hatten wir an diesem Tage zu unserer Beruhigung erneut erfahren: mit solchen Leuten, wie den deutschen Soldaten, konnten wir den Teufel aus der Hölle holen.

Unmöglich hätten wir mit unseren hungernden, frierenden, ermatteten Leuten das gesteckte Ziel erreichen können, wenn nicht der unbezwingliche, herrliche Siegeswille vom August 1914 in jedem Mann gesteckt hätte. Damals kannten wir auch keinen Unterschied der Partei oder des Standes. Wir alle waren deutsche Männer, die für ihr Vaterland auf den Ruf ihres Kaisers in den Kampf gezogen waren, um ihre Heimat, ihre Angehörigen vor den Greueln raublustiger Feinde zu bewahren. Alle Anstrengungen, alle Entbehrungen vermochten es damals nicht, dem deutschen Soldaten den Glauben an die gerechte Sache und an den Sieg der deutschen Waffen zu rauben. Kein Murren gab es, kein Widerwort wurde hörbar, jeder setzte seine letzte Kraft ein, wenn es hieß: weiter an den Feind.

Mit willenlosen Maschinen, zu denen man den deutschen Soldaten von damals heute stempeln will, hätten wir das nicht leisten können, was wir geleistet haben. Personen- und Lastkraftwagen

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erlagen dem russischen Eis und Schnee, zahllose Pferde im Zug und unter dem Reiter hauchten ihr Leben vor Ermattung aus. Der deutsche Soldat war unbeugsam in dem Willen „vorwärts“!

Nachdem die Umklammerung des rechten und des linken Flügels für die russische Front recht bedenklich geworden war, mußte der Feind sich auf der ganzen Linie zum Rückzugs bequemen. Unter schweren Kämpfen wurde Lyck genommen, vier Tage dauerte das heiße Ringen um die deutsche Stadt. Die Russen räumten Stellung um Stellung ihres tief angelegten Grabensystems und gingen in östlicher Richtung zurück.

Den Eroberern von Lyck war ein denkwürdiger Augenblick beschieden. Der oberste Kriegsherr begrüßte auf dem Marktplatz der noch brennenden und rauchenden Stadt, inmitten der Tausende von russischen Kriegsgefangenen, seine siegreichen Truppen. Umdrängt von den begeisterten Soldaten, mit Jubel begrüßt von den Kriegern, die soeben noch dem Tode ins Auge geschaut hatten, sprach der Kaiser Worte des Dankes und der Anerkennung für das Geleistete. Einen solchen Augenblick vergißt man mit seinem tiefen Eindruck sein Leben lang nicht.

Die 8. Armee folgte. Die 10. Armee hatte bereits weit um den feindlichen rechten Flügel herumgefaßt und stand mit Teilen schon im Rücken der Russen, von Süden und Südosten her drückten das 40. Reserve-Korps und die Kavallerie-Divisionen. Schritt für Schritt wurde ostpreußischer Boden vom Feinde gereinigt. Suwalki und Augustowo waren die Rückzugsrichtungen der Russen, vom Westen drängte weiter die 8. Armee, vom Norden das 38. und das 39. Reserve-Korps und vom Osten das XXI. Armeekorps.

Bedrohlich bei dem Unternehmen war, daß man dauernd von Kowno her im Norden und von Kolno-Ossowiec-Grodno im Süden Entsatzversuche durch starke russische Kräfte erwarten mußte. Zum Teil setzten sie auch ein, sie wurden über von den hierzu weitsichtig bestimmten deutschen Kräften in heldenmütiger Abwehr abgewiesen.

Absicht der 10. russischen Armee war es anscheinend, in dem gewaltigen Forst um Augustowo herum zu verschwinden und dann über den Bobr in Richtung auf Grodno ungesehen abzumarschieren. Der Plan sollte nicht glücken, denn auch in die großen Wälder hinein folgten die deutschen Truppen in unaufhaltsamem Vorwärtsstürmen. Nicht ungefährlich waren diese dichten Wälder, in denen es zu heißen Kämpfen kam. Der Russe wehrte sich verzweifelt und suchte durch kühne Vorstöße mit starken Kräften den gesicherten Abzug seiner Hauptmacht zu erreichen. Manches Mal konnte es unseren an Zahl unterlegenen Kräften bei diesen Waldgefechten schlimm ergehen, wenn nicht die deutsche Entschlossenheit stets über die russische Masse gesiegt hätte. Drei Tage lang war eine preußische Brigade von den Russen im Walde eingeschlossen, keine Verbindung nach irgend einer Richtung war mit den eigenen Truppen zu er-

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reichen. Führer und Leute behielten den Kopf oben und verzagten nicht, deutsche Männer werfen die Flinte nicht so schnell in das Korn. Ein Bataillon dieser Brigade, das aus abgesondertem Posten treu ausgeharrt hatte, wurde von den Russen fast ganz aufgerieben. Leicht mag es den Russen nicht geworden sein, dieses Bataillon zu überwältigen, davon zeugten schon die Mengen der Gefallenen, die wir an der Stelle fanden. Die wenigen verwundet Überlebenden, die wir noch retten konnten, erzählten uns, wie mannhaft sich das Bataillon geschlagen hatte. Trauer um die vielen verlorenen Kameraden, Stolz auf die Mannestat des braven Bataillons mischte sich mit der bedrückenden Erkenntnis, daß die Fahne dieses Truppenteils anscheinend den Russen in die Hände gefallen war. Sie war verschwunden. Damals führten wir die Feldzeichen noch mit und oft genug sahen wir sie entfaltet beim Angriff im Winde wehen. Kein Suchen half, man fand die Fahne nicht. Das tapfere Regiment trauerte um seine Gefallenen und um sein Feldzeichen. Endlich nach Tagen fand ein deutscher Telegraphenarbeiter, der im Walde von Augustowo die Leitungen instandsetzte, durch Zufall die vermißte Fahne. Zerschossen zwar war sie, aber unangetastet von Feindeshand. Auf dem Feldzeichen lag der tote Fahnenträger, drum herum lagen die Gefallenen des Bataillons, die sich zum Schutze ihres Heiligtumes um den Fahnenträger geschart hatten. Alle hatten sie ihr Leben eingesetzt getreu ihrem Fahneneid; bis zum letzten Atemzuge hatten sie das Wahrzeichen der Treue mit ihren Leibern gedeckt. Ein herrliches Beispiel deutscher Treue bis zum Tode!

Nach zehntägigem hartem Ringen war Augustowo genommen. Kriegsgefangene in riesiger Zahl und Kriegsgerät in unermeßlichen Mengen war den Russen entwunden. Durch ein kleines Loch, das in der Einkreisung offen geblieben war, gelang es namhaften Teilen des gewaltigen feindlichen Heeres in südöstlicher Richtung durchzuschlüpfen und im Walde zu verschwinden.

Auch jetzt gab es keine Ruhe. Man mußte den fliehenden Resten der Russen an den Fersen bleiben, mußte sie hindern, über den Bobr zu entkommen, wieder begann das Kesseltreiben in dem Augustower Forste. Endlich war man so weit, daß der Russe in der Falle saß.

Im Walde lag eine Blöße von etwa 5 km Länge und 31/2 km Breite. Von drei Seiten war sie eingeschlossen von dichtem Holz, auf der vierten war sie begrenzt von dem Wolkuschbach mit sumpfigen Ufern, die selbst der strenge russische Frost nicht hatte härten können. Etwa in der Mitte dieser großen Lichtung liegt das Vorwerk Ljubinowo. Das war die Mausefalle, in welche die nach der Zahl unschätzbaren, aber immerhin noch beträchtlich stark erscheinenden Reste der 10. russischen Armee nach heftigen Kämpfen und nach zähem Widerstände von allen Seiten zusammengetrieben waren. Fünf deutsche Divisionen: im Osten die 77. Reserve-Division und die 31. Infanterie-Division, im Süden die 2. Infanterie-Division, im Westen

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die 76. Reserve-Division und im Norden die 42. Infanterie-Division hatten am 20. Februar nach harten Mühen endlich den Kessel umstellt. Jetzt sollte es kein Entrinnen mehr geben. Der Russe, der das Messer an der Kehle fühlte, wehrte sich verzweifelt. Mit seinen zahlreichen Maschinengewehren und Geschützen schoß er nach allen Richtungen, jeden Augenblick mußten wir mit einem Durchbruchsversuch rechnen. Ob ein solcher wohl geglückt wäre? Ich möchte es fast meinen, wenn auch fünf deutsche Divisionen zur Stelle waren, so war doch die Einkreisungsfront recht lang und an Zahl waren wir nur wenige. Unsere Verluste, teils durch die Marschanstrengungen, teils durch die zahlreichen, schweren Kämpfe waren recht beträchtlich gewesen. Dazu kam, daß die im Osten und im Süden stehenden Divisionen auch nach rückwärts sichern mußten, da sie Angriffe der in und um Grodno gemeldeten russischen Armee zu erwarten hatten. Auf Unterstützung durften wir nicht rechnen. Line große Anzahl Divisionen, die bis zur Einnahme von Augustowo mitgekämpft hatten, waren bereits nach anderen Kampffronten verschoben. Auf uns selbst waren wir angewiesen, wie wir da rings um die Russen herum eingegraben auf der Lauer lagen. Jedem einzelnen von uns war das klar und doch hatte jeder das bestimmte Gefühl: Hier kommen sie nicht durch. Jeder wußte, daß die Entscheidung der großen Schlacht jeden Augenblick bevorstand, daß nicht letzten Endes die Früchte des fast geleisteten Riesenunternehmens verloren gehen durften. Glänzend war die Stimmung unserer Leute auch hier wieder, trotzdem der quälende junger sich meldete, trotzdem wir im Schnee ohne Schutz gegen wind und Wetter lagen, trotzdem der Russe uns kaum einen Augenblick mit seinem Segen aus Infanterie- und Maschinengewehren sowie aus Kanonen aller Kaliber Ruhe gönnte.

So verging der Rest des 20. Februar, die Dunkelheit brach herein. Keiner von uns hat wohl in atemloser Spannung in dieser Nacht ein Auge zum Schlafe geschlossen. Schauerlich klang in dem Walde der Einschlag der russischen Granaten, das Platzen der Schrapnells, das pfeifen der Infanteriegeschosse. Aber der Russe wagte den Durchbruch nicht, während der ersten Nachtstunden war hinter unseren Infanteriestellungen die Artillerie aufgefahren. Bei Morgengrauen sollte sie ihr Feuer in den Russenkessel eröffnen und sodann sollte der allgemeine Infanterieangriff von allen Seiten beginnen. Dazu kam es aber nicht mehr. Abgeschnitten von jedem Verpflegungs- und Munitionsnachschub sahen die Russen endlich ein, daß sie sich ergeben mußten. Das Hoffnungslose ihrer Lage wurde durch das Scheitern aller Entsatzversuche von außen her immer klarer. Der eiserne Ring hielt, dank der Entschlossenheit, dank dem Überlegenheitsgefühl, dank der Siegeszuversicht unserer Truppen. Der Russe mußte die Waffen strecken. Der Gerechtigkeit zuliebe muß anerkannt werden, daß auch die Russen sich mannhaft

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geschlagen hatten. Weit über 30 000 Gefangene, darunter 11 Generale, 200 Geschütze, ungezählte Maschinengewehre und unermeßliches Kriegsmaterial fielen uns in die Hände. Während die endlosen, erdbraunen Züge der gefangenen Russen zum Abtransport geordnet wurden, hatten wir die stolze Freude, einem großen Teil unserer im verlaufe der Schlacht vermißten, von den Russen gefangenen Kameraden die Hände schütteln zu können. Befreit aus der Gefangenschaft, ledig der Aussicht, nach dem östlichsten Rußland oder nach Sibirien verschickt zu werden, sanken sie uns voll Jubel in die Arme.

Die Winterschlacht in Masuren war geschlagen. Durch deutschen, unbeugsamen Willen vernichtet lag eine gewaltige, russische Armee am Boden. 110 000 Gefangene, etwa 300 Geschütze, mehrere hundert Maschinengewehre, Munitionswagen, Feldküchen, anderes unzählbares Kriegsgerät, einige tausend Stück Vieh und Pferde, sowie drei Lazarettzüge und eine Kriegskasse waren die Gesamtbeute der 8. und 10. Armee. Diesen schönen Erfolg hatten die tapferen Truppen aber auch verdient. Der Siegesjubel in der Heimat und draußen kannte keine Grenzen. Das Erreichte stärkte unseren braven Leuten von neuem den Mut. Kein Ausruhen gab es auf den errungenen Lorbeeren. Im Augustower Forst lag noch unschätzbares, wertvolles Kriegsmaterial, das in Sicherheit gebracht werden mußte. Da hieß es die Aufräumungsarbeiten decken gegen die von Grodno her zu erwartenden Angriffe russischer Truppen. Die Anstürme kamen, aber wir hielten auch hier stand, wie unsere Truppen im Angriff in der winterlichen Schlacht nicht versagt hatten, so vermochten sie auch in der Abwehr zähe auszuhalten, um die sichtbaren Erfolge des von ihnen erstrittenen Sieges heimzubringen.

Großes war durch die Kämpfe der Masurenschlacht erreicht worden. Deutschland war im Osten vom Feinde befreit. Die geflüchteten Bewohner konnten zurückkehren, und wenn auch so mancher sein Haus und seine Scheune nicht wiederfand, konnten sie doch auf eigenem Grund und Boden, ohne Furcht vor der Wiederkehr der Russen, die Frühjahrsbestellung vorbereiten. Geld aus der Heimat floß dem ostpreußischen Hilfswerk reichlich zu. Im Sommer 1915 standen die Fluren des östlichen, deutschen Landes schon wieder im Schmucke der bestellten Felder, wo im Winter noch der Russe gehaust hatte, wo russische Granaten die ostpreußische Scholle aufgewühlt hatten, da ging jetzt wieder der friedliche Landmann hinter dem Pfluge und gedachte dankbaren Herzens der deutschen Helden, die sein Land befreit hatten.


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von Dickhuth-Harrach, Gustaf. Im Felde unbesiegt: der Weltkrieg in 28 Einzeldarstellungen. München: J. F. Lehmanns Verlag, 1921.

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